Babys schreien lassen – Warum ich das niemals tun würde, auch wenn andere es von mir denken

Ich habe zwei Kinder, die sehr fordernd sind und ihren Forderungen häufig lautstark Nachdruck verleihen. Die Tochter war ein Schreibaby, sie schrie viereinhalb Monate intensiv und sehr viel, danach wurde es immer besser. Heute schreit sie nicht mehr, aber sie weint, laut und für alle gut hörbar. Sie weint, wenn sie sich weh getan hat, wenn sie etwas unfair findet (und eine dreijährige findet verdammt viel unfair), wenn etwas nicht so klappt wie sie es sich vorstellt, wenn der Mann oder ich etwas tun, was sie gerade nicht so geplant hat, wenn sie Nähe braucht, wenn sie müde ist und bestimmt noch aus ganz vielen anderen Gründen. Es ist ihre Art sich auszudrücken und für uns völlig in Ordnung, auch wenn es manchmal mühsehlig ist in dem lauten weinen und schluchzen zu verstehen, was genau sie benötigt. Für Außenstehende wirkt dieses weinen oft befremdlich, sie reagieren erstaunt oder entsetzt und fragen oft, was denn nun so schlimm gewesen sei, dass das Kind so laut hat weinen müssen. Es ist oft traurig, dass ihre Art diese Gefühle zu zeigen bei anderen Menschen auf solche Vorurteile stößt.

Auch der Sohn ist kein ruhiger Vertreter. Er ist fordernd und will eigentlich immer Körperkontakt mit mir haben. Wenn das nicht geht, dann aber bitte in Sichtweite und auch nur dann, wenn er satt, nicht müde, nicht krank, nicht zahnend oder sonst etwas ist. Ist das nicht gegeben, weint er. Das ist auch normal, denn er ist ein Baby und weiß sich eben einfach nicht anders auszudrücken.

Meine Kinder drücken also beide ihre Gefühle relativ laut aus (auch die Freude kann bei uns sehr laut sein, lautes lachen, Freudenschreie, all sowas). Für mich ist das manchmal anstrengend, denn ich bin von Natur aus eher ein ruhiger Mensch, der Mann auch. Trotzdem begleiten wir unsere Kinder in all ihren Gefühlen so gut es uns eben möglich ist. Natürlich haben wir auch mal Tage, an denen alles anstrengend ist. Und es gibt auch Tage, an denen ich schon Morgens bete, dass sie nicht so viel weinen, wenn ich selbst müde bin, weil ich in der Nacht alle zwanzig Minuten wach war um den Sohn wieder in den Schlaf zu stillen (und solche Nächte haben wir aktuell noch verdammt oft).

Das die Kinder laut weinen bekommt unsere Umwelt mit, dass daraus aber geschlossen wird, dass ich meine Kinder schreien lasse und auch darüber getratscht wird, damit hätte ich nicht gerechnet. Ich, die Mutter die immer mindestens ein Kind umgebunden hat. Die immer wieder erzählt, dass die Kinder mit uns im Bett schlafen. Ich, die überall stillt, auch das große Kind. Ich, die sonst immer für etwas schräg und öko gehalten werde. Mir traut man also wirklich zu, dass ich beide Kinder schreien lasse bzw. schreien gelassen habe?

Was passiert, wenn wir unser Baby schreien lassen?

Schreien lassen ist uns vor allem von sogenannten Schlaflernprogrammen ein Begriff. Oft wird dort auch von kontrolliertem schreien lassen gesprochen, denn die Eltern gehen nach einer fest definierten Zeit wieder zu dem Kind, trösten und beruhigen es. Auch begleitetes schreien lassen wird oft im Zusammenhang mit solchen Programmen erwähnt. Hier wird das Kind zwar nicht komplett alleine gelassen, es erfährt aber keinerlei oder nur sehr reduzierte Zuwendung von seiner Bezugsperson.

Allein diese Vorstellung, dass Kind, meist unter einem Jahr, weint und schreit ganz für sich alleine, gefangen in einer Situation, die es nicht alleine verlassen und auch nicht kontrollieren kann, löst bei mir ein ziemlich mieses Gefühl aus. Mir wird alleine bei der Vorstellung so etwas mit meinen Kindern zu tun ganz anders, mein Herz rast und mir wird übel. Mein Körper reagiert mit Stress, nicht verwunderlich.

Babys schreien und weinen um sich uns mitzuteilen, sie können es nicht anders bzw. wir verstehen oft andere Formen der Kommunikation nicht oder nicht ausreichend. Es ist also natürlich und in Ordnung, dass ein Baby ab und an weint oder schreit. Es teilt uns damit mit, dass etwas nicht in Ordnung ist. Wir Eltern reagieren in der Regel sofort auf das weinen und geben unser Bestes um das Kind zu beruhigen und die Situation für es zu lösen.

Lassen wir unser Kind aber alleine schreien, fängt der Körper an Kortisol, also das Stresshormon, auszuschütten. Das kleine Wesen bekommt Stress, welchen es alleine nicht abbauen kann. Ist eine Bezugsperson da und „befreit“ es aus der Situation, gibt ihm Zuwendung, Nähe und tröstet es, schüttet der Körper Oxytocin (also das Kuschelhormon) aus. Das Kortisol kann abgebaut werden, das Kind erfährt, dass ihm geholfen wird.

Doch was macht Stress und ein erhöhter Kortisolspiegel mit dem Kind (wer gerne die genauen Hintergründe kennt, schaut bitte hier bei Geborgen Wachsen vorbei)? Es führt dazu, dass das Kind in einem dauerhaft angespannten Zustand lebt, dass es vermehrt Ängste durchsteht oder dass es häufig überreizt. All dies muss nicht direkt auftreten oder tritt vielleicht nur in einer abgeschwächten Form auf, je nachdem wie die restliche Beziehung zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen ist. Man weiß jedoch heute, dass dies immer auch Spätfolgen haben wird. Erwachsene, die als Kinder schreien gelassen werden, leiden oft an Depressionen, Angststörungen, Schlafstörungen oder ähnlichem.

Gegner dieser Theorie zitieren gerne die sogenannte Australien-Studie (Behavioral Interventions for Infant Sleep Problems: A Randomized Controlled Trial von Michael Gradisar, Kate Jackson et al). In ihr wurde festgestellt, dass der Kortisolspiegel nicht direkt ansteigt, wenn das Kind schreien gelassen wird. Eine Auseinandersetzung dieser Studie durch Nicola Schmidt kann hier nachgelesen werden.

Schreien bis zur Resignation

Immer wieder hört man, dass Schlafprogramme Erfolg haben. Nach zähen Abenden mit Tränen auf allen Seiten (ich habe von Müttern gelesen, die sich selbst in einem anderen Zimmer eingesperrt oder einsperren lassen haben um nicht „weich“ zu werden), schläft das Kind ohne viel Drama im eigenen Zimmer ein und im Idealfall auch die ganze Nacht durch. Es scheint, als hätte das Training Erfolg gehabt, das Kind schläft alleine ein und oft auch durch. Doch zu welchem Preis ist das geschehen? Und hält das für immer?

Kinder, die schreien gelassen werden, geben in der Regel irgendwann auf, sie schreien bis zur Resignation. Das ist bei einigen schnell erreicht, bei anderen dauert es sehr lange bis sie gebrochen sind. Doch bei allen Kindern kommt eines an: Sie schreien und weinen um Hilfe, sie rufen ihre Eltern, weil sie nicht alleine sein wollen. Doch aus ihrer Sicht werden sie nicht gehört, ihre Eltern verwehren ihnen die Nähe und die Hilfe, die sie benötigen. Viel schlimmer noch, sie lassen ihre Kinder in der für sie bedrohlich erscheinenden Lage alleine.

Das Kind hat also aufgegeben, es weiß nach vielen oder auch wenigen Abenden alleine, dass es keinen Sinn hat weiter Kraft zu investieren und nach den Eltern zu rufen. Aus Selbstschutz spart es sich die Kräfte auf. Es ist jedoch nicht garantiert, dass das immer so bleibt. Denn mit einem Entwicklungsschritt oder einer sonstigen Veränderung kann es passieren, dass die Kinder erneut ausprobieren, was passiert wenn sie wieder nach ihren Eltern rufen. Das Programm muss also erneut durchgezogen werden.

Begleitetes schreien

Wie bereits oben erwähnt gibt es auch die Methode des Schlaftrainings, in dem Kinder beim schreien, weinen, wüten begleitet werden. Wie genau das gehandhabt wird ist von Methode zu Methode unterschiedlich. Bei vielen jedoch sind die Eltern körperlich anwesend, reden mit dem Kind, nehmen es aber nicht in den Arm oder suchen sonst auf eine Art Körperkontakt. Auch diese Methode ist nur eine abgeschwächte Methode des alleine schreien lassens aus meiner Sicht. Und auch hier wird dem Kind deutlich gemacht, dass die Eltern seine Gefühle nicht wahrnehmen und nicht bereit sind ihm deutlich und angemessen zu helfen.

Doch es gibt auch Situationen, in denen wir Eltern das schreien unserer Kinder begleiten müssen. Ich habe das selbst lange Monate gemacht, denn die Tochter hat in ihren ersten Lebensmonaten sehr viel geschrien. Sie kam auch auf dem Arm oder mit engem Körperkontakt nicht oder nur sehr schwer zur Ruhe. Wir wissen bis heute nicht was sie hat schreien lassen, aber wir wissen, dass es raus musste. Diesen Prozess zu begleiten ist ein enormer Kraftakt und verlangt von den Eltern viel ab. Wichtig ist aber immer, dass sich Eltern klar machen, dass sie in solchen Situationen ihr Kind nicht schreien lassen. Beim Sohn hat es mir sehr geholfen in diesen Situationen zu sagen, dass er mir etwas auf diese Art erzählen muss.

Sicher und unsicher gebundene Kinder

Kinder, die schreien gelassen werden, werden häufig zu unsicher gebundenen Kindern. Natürlich hängt dies noch von vielen weiteren Faktoren ab und vor allem auch sehr viel von der restlichen Beziehung der Eltern mit ihrem Kind.

Kinder, die schreien gelassen werden, lernen jedoch, dass sie ihre Probleme alleine lösen müssen. Ihre Eltern reagieren nicht auf sie, wenn sie in Not sind und deren Hilfe so dringen benötigen würden. Oft ziehen sich diese Kinder zurück, sie resignieren.

Mehr Informationen zu sicher und unsicher gebundenen Kindern im Zusammenhang mit schreien lassen können bei Spiel und Zukunft in einem Interview mit Karl-Heinz Brisch gefunden werden.

Gemeinsam statt alleine

Kinder in den Schlaf zu begleiten ist häufig sehr anstrengend. Das kann viele Gründe haben, manche können wir erkennen und etwas dagegen tun, bei anderen nicht. Trotz allem ist es aber wichtig, dass wir einen gemeinsamen Weg finden, der für alle Schlaf erholsam und sicher macht. Dieser Weg sieht nicht für alle gleich aus und kann sich auch innerhalb einer Familie von Kind zu Kind unterscheiden. Deswegen ist es so wichtig ihn zu gehen. Und falls wir es nicht schaffen ihn alleine zu gehen, es gibt im artgerecht Projekt und bei 1001 Kindernacht viele kompetente Personen, die Beratungen anbieten und gemeinsam eine Lösung erarbeiten.

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