Beziehung statt Erziehung – 4 Grundwerte nach Jesper Juul

Hören wir das Wort „Erziehung“, denken wir oft an gutes Benehmen, Folgsamkeit, dem Wunsch nicht negativ mit seinen Kindern aufzufallen und sich auf keinen Fall von einem Kind auf der Nase herum tanzen zu lassen. Die größten Sorgen vieler Eltern gelten oft der Außenwirkung ihrer Kinder und der Familie.

Aber was passiert in den kleinen Menschen, wenn wir Verlangen statt zu Bitten, Befehlen statt zu Fragen, Bestimmen statt zu Besprechen, Schimpfen statt zuzuhören?

Es gibt Studien, die belegen, dass die Auswirkungen von körperlicher Gewalt an Kindern die gleichen sind wie Folgen von verbaler Gewalt. Kinder fühlen sich verletzt, herabgesetzt und haben ein geringes Selbstwertgefühl.

Wir distanzieren uns von einer Gehorsamserziehung und möchten nicht, dass unsere Kinder folgen statt zu hinterfragen sondern selbst entscheiden, was sie tun und was nicht, was richtig ist und was falsch.

Ein selbstbestimmtes Kind, das klingt toll, nach Freiheit und Selbständigkeit. Unseren Kindern Entscheidungen zu überlassen weckt allerdings auch große Ängste. Was passiert, wenn wie sie nicht mehr „unter Kontrolle“ haben? Tanzen sie uns auf der Nase herum? Werden wir zu ihren Bediensteten? Müssen wir dann immer machen, was unsere Kinder wollen?

In diesem Beitrag möchte ich die 4 grundlegenden Familienwerte von Jesper Juul vorstellen, die er in seinen Büchern vermittelt. Claras und meine Familie leben grundsätzlich nach diesen Grundwerten und sind sehr froh, dass wir mit unseren Familien diesen Weg beschreiten.

Die 4 Grundwerte, deren Einhaltung Juul (und nicht nur er) in Familien für essentiell hält sind folgende:

Gleichwürdigkeit

Was bedeutet Gleichwürdigkeit? Es handelt sich um eine Wortkreation von Jesper Juul und er meint damit, dass jeder Mensch, egal welchen Alters, den gleichen Wert hat. Wir wahren die persönliche Würde jedes Familienmitglieds und ebenso die aller Personen, denen wir begegnen. Das ist die Leitlinie von Jesper Juuls Familienratgebern.

Kinder sind vor ihren Eltern nicht Gleichberechtigt oder Ebenbürtig, weil Eltern mehr Lebenserfahrung haben, das Geld verdienen und für alle wichtigen, weitreichenden Entscheidungen die alleinige Verantwortung tragen. Kinder verfügen nicht über die gleichen Ressourcen wie wir.

Aber jedes Kind ist ein gleichwürdiges Familienmitglied, das nach seinen Kompetenzen und Fähigkeiten in das Familienleben einbezogen wird und Entscheidungen treffen kann.

Integrität

Die physischen und psychischen Grenzen jedes Familienmitglieds werden gewahrt. Es gibt keine Erniedrigung, Strafen oder Verletzungen. Jüngere Mitglieder werden durch die älteren geschützt. Die Eltern vermitteln den Kindern im Zusammenleben, wie man seine Grenzen wahrnimmt, kommuniziert und schützt. Das gemeinsame Leben kann nicht konfliktfrei ablaufen aber es ist entscheidend, dass die entstehenden Konflikte unter Wahrung der Würde gelöst werden.

Authentizität

Kinder brauchen keine Eltern, die eine Rolle spielen, nicht die immer-liebe Mutti oder der strenge Vater. Niemand durchschaut ein solches Theater schneller als Kinder. Sind wir authentisch und zeigen uns, unser wahres „ich“, dann lernen Kinder am meisten von uns. Eltern zeigen, was sie gut finden und was nicht und einen schlechten Tag erwischt jeder einmal. Es ist besser dem Kind zu erklären, dass man heute keine lauten Geräusche erträgt, weil man Kopfschmerzen hat anstatt mit zusammengebissenen Zähnen ein Trommelkonzert zu ertragen. Niemand ist perfekt und muss es auch nicht sein, das ist eine gute Botschaft für alle Kinder.

Verantwortung

Die Eltern tragen allein die Verantwortung für den Umgang in der Familie und die Qualität der Beziehung zu ihren Kindern. Wie alle Menschen möchten Kinder ernst genommen werden, wertschätzend behandelt werden und über sich selbst bestimmen. Ebenso sollen sie so früh wie möglich über das bestimmen dürfen was im Rahmen ihrer Kompetenzen liegt. Aber alles, was in der Familie passiert geschieht unter dem schützenden Schirm der elterlichen Verantwortung, die sie unbedingt ernst nehmen müssen. Und hier ist für mich der Knackpunkt der „Auf der Nase herum tanzen“-Diskussion. Eltern dürfen sich in Gedanken niemals einer Opferrolle hingeben. Sie verantworten alles, was geschieht. Kleine Kinder sind nicht selbst daran schuld, dass sie Müde sind und wir die Opfer ihrer Unleidlichkeit, die wir dann bestrafen müssen. Hat ein Kind nicht genug geschlafen, hätte es eventuell unsere Hilfe beim Einschlafen benötigt oder eine Co-Regulation um zur Ruhe zu kommen. Wir hätten vor dem Schlafen über ihre Probleme sprechen sollen oder was auch immer nötig gewesen wäre, um ihnen eine erholsame Nacht zu ermöglichen. Kinder tragen dafür niemals die Verantwortung.

Was wird aus unseren Ängsten, die uns Jahrzehntelang eingeflößt wurden von Tyrannenkindern, die uns das Leben zur Hölle machen, wenn wir sie nicht kontrollieren?

Wie so vieles im Leben liegt auch die Einschätzung von Tyrannei mehr am Betrachter als am Kind. Ein auf dem Boden vor der Supermarktkasse liegendes, schreiendes Kind mag auf uns wirken, als wolle es seine Eltern mit seinem Verhalten erpressen. Aber tut es das wirklich? Wir sagen: Nein. Kinder die wütend sind, nicht gehorchen wollen oder „trotzig“ sind, haben einen neuen Teil der Welt entdeckt und üben den Umgang mit neuen Gefühlen, Möglichkeiten und Wünschen. Das ist schwer, braucht Geduld und Zeit.

Wenn Kinder entdecken, dass sie nicht ein Teil ihrer Eltern sind sondern ein eigenständiger Mensch, dann entwickeln sie Wüsche und diese sind stark, mächtig, manchmal übermächtig. Und diese Wünsche kollidieren mit den Vorstellungen der Eltern, zum Beispiel vor der Supermarktkasse. Die Erkenntnis, seine Wünsche nicht durchsetzen zu können, macht das Kind wütend. Es ist enttäuscht und hat noch keine Erfahrung im Umgang mit dem Gefühl der Wut und Hilflosigkeit. Aus dieser Perspektive haben wir ein hilfloses, überfordertes Kind, das Hilfe benötigt um mit diesen neuen Gefühlen umzugehen. Wenn wir das Kind auffangen und unterstützen im Umgang mit den überwältigenden Gefühlen, desto schneller enden solch dramatische Szenen und wir fördern das Selbstwertgefühl des Kindes, indem wir es auch in schwierigen Situationen annehmen und nicht bestrafen oder beschimpfen für die Gefühle, die es gerade überwältigt haben.

 

Zum Weiterlesen: „Vier Werte, die Kinder ein Leben lang tragen“ von Jesper Juul.

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