Seit wir Menschen Maschinen erfanden, um uns das Leben leichter zu machen, die industrielle Revolution zunehmenden Wohlstand für die Bevölkerung der ersten Welt brachte und die Sorge genug zu essen zu haben immer geringer wurde, wachsen unsere Ansprüche an unsere Lebensqualität. Der Wunsch nach Wohlstand treibt die halbe Welt dazu zu arbeiten und „etwas aus dem Leben zu machen“.
In gleichem Maß, mit dem die existentiellen Sorgen geringer wurden, stieg der Wunsch nach Selbstverwirklichung. Spätestens seit den 60er Jahren zählten Kinder zu den Statussymbolen der neuen Zeit.
Unsere Sorgen waren nicht länger, dass die Hälfte unserer geborenen Kinder nicht überleben würde, dass sie mitarbeiten mussten, um die Familie zu ernähren oder sie in schrecklichen Kriegen starben.
Es entwickelte sich der Wunsch nach wohlerzogenen, vorzeigbaren Kindern. Ein Symbol des Erfolges in einer Welt, in der man sich anstrengen muss um etwas zu erreichen.
In den 30er und 40er Jahren hatten die Mütter vornehmlich für die körperliche Gesundheit der Kinder zu sorgen, denn man hatte Keime als Auslöser vieler (Kinder)Krankheiten entdeckt, die bis dahin weit verbreitet waren. Ärzte schrieben Ratgeber für Eltern in denen sorgsame Hygiene und frische Luft empfohlen wurden. Speziell in Deutschland prägte die Ideologie der Nationalsozialisten eine Haltung, in der Stärke, Mut aber auch Grausamkeit gefördert wurden, Schwäche aber auch intellektuelle Erziehung wurden abgelehnt.
Das Leitbild der Erziehung war Gehorsam gegenüber den Eltern und Älteren im Allgemeinen. Das würde von den Kindern verlangt und daran wurden die Eltern gemessen.
Die Familienverhältnisse waren durch den Krieg oft sehr schwierig. Die Verantwortung für die ganze Familie lag oft bei den Frauen. Ihr Leben war von Überlebensstrategien beherrscht. Sie sorgten für die Kinder und wurden durch ihre Familie unterstützt, die klassische Großfamilie gab es aber nicht mehr überall.
Die Regeln für die Erziehung der Kinder wurden von außen vorgegeben und waren streng und klar, aber höchst widersprüchlich zu dem instinktiven Verhalten der Mutter.
In den 50ern und 60ern rückte das Familienleben stärker in den Mittelpunkt. Durch die Reduzierung der Wochenarbeitszeit auf 5 Tage entstand Raum für die Familie. Eltern begannen auch Wert auf eine liebevolle Beziehung zu ihren Kindern zu legen, es wurde aber weiterhin großen Wert auf Gehorsam und Folgsamkeit gelegt. Hier entwickelte sich der Ausspruch, Kinder solle man sehen aber nicht hören.
Die Vater war in dieser Zeit das Familienoberhaupt, die Frau ihm untergeordnet mit der Führung des Haushaltes und der Erziehung der Kinder betraut. Die Regeln für die Kinder waren klar und im Grunde durch die ganze Gesellschaft gleich, es entwickelte sich durch den gestiegenen Wohlstand allerdings ein Spielraum für das „Kind sein“.
Die Abkehr der Gehorsamkeitsforderung kam mit der 68er Revolution, die eine Liberalisierung der Kindererziehung brachte. Die Beziehung der Eltern zu den Kindern wurde demokratisiert, die Selbständigkeit und die freie Entwicklung der Kinder bekam eine größere Bedeutung.
Es etablierten sich Ratgeber von Psychologen und Verhaltensforschern zur Kindererziehung.
In den 70er und 80er Jahren folgte das Verbot der körperlichen Gewalt gegenüber Kindern und die gewaltfreie Erziehung von Kindern wurde gesetzlich verankert. Die Mitbestimmung von Kindern in den Familien wurde gestärkt und der Fokus der Erziehung richtete sich auf die Selbstbestimmung der Kinder und die Förderung ihrer Entwicklung.
Galt ein Kind früher einfach als schwierig bzw. schwer zu erziehen wurde die Schuld hierfür idR nicht bei den Eltern sondern beim Kind gesehen. Die Demokratisierung der Familie bringt die Eltern in die Verantwortung für das Ergebnis der Erziehung ihrer Kinder.
Eltern werden in unserer leistungsorientierten Gesellschaft danach beurteilt, wie ihre Kinder „gelingen“, wie leistungsfähig und erfolgreich sie werden. Das Familienleben findet häufig in Kleinfamilien statt (Eltern und Kinder), Generationenwohnen und Großfamilien werden immer seltener. Die Orientierung für den eigenen Lebensstil an der Elterngeneration ist häufig nicht mehr gewollt.
Durch den Wegfall klarer, allgemeingültiger Vorgaben und Richtlinien und den dadurch entstehenden Freiraum tragen die Erziehungsverantwortlichen das Risiko, dass ihre Kinder sich nicht so entwickeln, wie es von den Eltern und dem Umfeld gewünscht ist.
Da die liberale Erziehung erst seit 1-2 Generationen gelebt wird, gibt es wenig erlebte Erfahrung und das elterliche Repertoire ist durch ihre eigene, meist autoritäre Erziehung begrenzt.
Aus dieser Unsicherheit entstehen die zwei Strömungen heute.
Die erste befriedigt den Wunsch nach Orientierung und anwendbaren Regeln, indem Erziehungsratgeber mit autoritären Methoden wieder nachgefragt werden und die Angst vor verzogenen Tyrannen geschürt wird. Es wird eine neue Strenge gegenüber Kindern etabliert und der Wunsch nach einem „funktionierenden“ Kind ist der Antrieb der elterlichen Bemühungen. Gehorsam gilt als wünschenswertes Erziehungsergebnis und nocht wenige Eltern greifen auf Gewalt zurück, um ihre Ziele zu erreichen.
Die andere Seite sucht neue Quellen zur Etablierung eines zugewandten Erziehungsstils, betreibt Forschung und sucht bei anderen Kulturen und sogar Urvölkern nach Rat, Orientierung und Anregung im Umgang mit Kindern. Je weniger Vorgaben die Eltern bekommen oder annehmen, desto mehr Vertrauen benötigen Sie in sich und ihre Kinder. Da dieses Vertrauen aber über mehrere Generationen ignoriert und aberzogen wurde, versucht ein Teil der Eltern auch hier den tief verwurzelten Wunsch nach Vorgaben und Leitlinien erfüllt zu bekommen.
Schlagworte gewinnen an Bedeutung, Kinder werden nach Juul, Imlau oder Sears erzogen, sind AP oder nicht-AP Kinder. Es werden Fakten gecheckt, ob sie im Familienbett schlafen, wie lange sie wie oft gestillt werden, ob die Mütter erfolgreich windelfrei praktizieren und wieviele Stunden am Tag sie am Körper getragen werden. Wenn Eltern sich auch hier Vorgaben von außen unterwerfen und Überlegungen fremder Menschen zu ihren Regeln machen, erzeugt das immer Stress.
Wir bewerten, beurteilen und machen Vorgaben, folgen Regeln, erfüllen Anforderungen und sind dabei so weit weg vom bedürfnisorientiertem Leben wie alle Familien vor uns, die sich fremden Regeln unterworfen haben.
Den Kompass für den Weg, den wir gehen möchten finden wir in keinem Buch, in keinem Vortrag, nicht im Internet oder bei den !Kung in Afrika. Wir finden ihn in uns drin, zwischen unserem Herzen und unserem Bauchgefühl. Er ist dort versteckt, vielleicht verschüttet oder ganz leicht zu finden. Wir brauchen den Mut loszulaufen und die Einsicht, dass wir nicht zielsicher einen Weg in eine Richtung beschreiten werden. Es wird schwer, weil wir wenig Übung haben, unseren Weg allein zu finden. Es wird bergauf und bergab gehen, vor und zurück, es wird Licht und Schatten geben aber es wird unser Weg sein, der richtige Weg für jede Familie; nicht perfekt, kurvenreich und einzigartig. Das ist unser Weg zu einem zufrieden Leben.
Quelle:
Hannelore REICHER, Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Universität Graz, Erziehung und Schule im Wandel der Zeit: Einblicke in kindliche Lebenswelten in den Nachkriegsjahren und heute
melanie