Ja, wir stillen noch

Zur Weltstillwoche wollte ich einen Beitrag über uns und unsere Stillbeziehung schreiben. Unter den ersten 50 Wörtern, die mir einfielen war 30x „Langzeitstillen“.

Was bedeutet Langzeitstillen und was ist dann Kurzzeitstillen? Die Empfehlung der WHO zur Stillzeit kennen die meisten: 6 Monate voll stillen, 2 Jahre begleitend stillen und wer möchte auch noch länger. Demnach wären 24 Monate Normalzeitstillen und ab dann ist man Langzeitstillend?

Die statistischen Zahlen in Deutschland zeigen: 90% aller Mütter beginnen zu stillen. Viele Mütter beenden die Stillbeziehung sehr früh. Nach 6 Monaten werden noch 40-50% der Kinder gestillt[1], aber nur 22,4% aller Mütter stillen die empfohlen 6 Monate voll. An ihrem ersten Geburtstag stillen nur noch 3% aller Kinder in Deutschland.[2]

In unserer Wahrnehmung der stillenden Mütter in Deutschland beginnt das lange Stillen bei ca. 7-12 Monaten. Der Schwerpunkt unserer positiven Sicht auf das Stillen liegt auf gesundheitlichen Aspekten und mit 6 Monaten scheint eine Mutter ihre „Pflicht“ gegenüber dem Kind erfüllt zu haben. Dazu passt die Empfehlung vieler Kinderärzte und die vielen Angebote der Beikost, die schon ab dem 4. Monat angepriesen werden.

Wenn man mit diesen Zahlen von einer Mutter ausgeht, die das Wochenbett einhält, mit 4 oder 5 Monaten Beikost einführt und mit 6-7 Monaten abstillt ergibt das einen sehr kurzen Zeitraum, in dem sie in der Gesellschaft als stillende Mutter wahrgenommen wird. Das wiederum bedeutet, dass fast jede in der Öffentlichkeit stillende Mutter eine Besonderheit ist.

Diese gesellschaftliche Anschauung steht in krassem Gegensatz nicht nur zur WHO-Empfehlung sondern auch zur natürlichen Stilldauer für Menschenkinder. Je nach Studie und gewählten Kriterien liegt diese zwischen 2,5 und 7 Jahren.[3]

Alle diese Zahlen decken sich mit den Erfahrungen, die mein Sohn und ich in unserer Stillzeit gemacht haben.

Zuerst wurden wir beglückwünscht, uns für das Stillen entschieden zu haben. So ein kleines Baby an der Brust empfindet noch fast jeder als „natürlich“ und richtig.

Nach 4 bis 5 Monaten wurden wir vom Kinderarzt und dem Umfeld angehalten, mit Beikost zu beginnen, inklusive dem üblichen Plan, eine Stillmahlzeit alle 2 Wochen zu ersetzen. Das Kind hielt nichts von diesem Plan. Er hat schon immer häufig gestillt, mit 5 Monaten noch alle 90 Minuten tagsüber und alle 2-3 Stunden Nachts.

Durch seinen Stillrhythmus habe ich oft unterwegs und draußen gestillt. Im Park, auf Hochzeiten, in der Einkaufsstraße und an Bushaltestellen. Wir wurden nie negativ angesprochen, vereinzelt ernten wir liebevoll-verständige Blicke, die meisten Menschen wenden sich schnell ab. Ein kurioses Erlebnis hatten wir auf einer Minigolfbahn im Urlaub. Dort stillte ich den 1,5 jährigen müden Sohn auf einer Bank in der Anlage und niemand traute sich die Minigolfbahn in unserer Nähe zu benutzen, bis wir weiter gegangen waren.

Mit knapp 6 Monaten erfüllte unser Sohn die Beikostreifezeichen soweit, dass wir ihm zuerst Gemüse und dann Obst als Fingerfood angeboten haben. Er fand es interessant und spannend, mit uns an den Mahlzeiten teilnehmen zu können, stillte aber weiter häufig und gern.

Es ist für mich ein wesentlicher aber kaum beachteter Punkt in der sachlich geführten (Ab)Stilldebatte: unser Sohn stillt einfach gern. Und das ist nichts außergewöhnliches. Jede Stillberaterin predigt „Stillen ist mehr als Nahrungsaufnahme“ und hat so Recht damit. Stillen beruhigt ihn wie nichts anderes, funktioniert als Schlafmittel hervorragend und bringt ihn bis heute zurück, wenn Kopf und Körper zu viel wollen, nicht zur Ruhe kommen und er völlig überdreht ist. Stillen gibt Geborgenheit, z.B. nach einem aufregenden und anstrengenden Tag in der Betreuung. Dann fordert er nichts vehementer ein als eine Still- und Kuschelpause.

Im Übergang von weniger Stillen zu mehr Essen haben wir ihm freie Hand gelassen. Er nimmt an unseren Mahlzeiten teil, isst selbständig so viel er mag, bekommt Vor- und Nachmittags einen Snack angeboten und zwischendrin auch mal einen Keks. Nach dem ersten Geburtstag hat er begonnen wahrnehmbar weniger zu stillen und nachts 4-6 Stunden am Stück zu schlafen. In Krisenzeiten trinkt er häufiger (Zahnen, Krankheit, usw), in den letzten Wochen (Lebensmonat 20-21) stillen wir einmal Mittags, Abends zum Einschlafen und Nachts 2-10 Mal. Das variiert je nachdem, wie gut er schläft und wie viel er tagsüber gegessen hat.

Unser Sohn ist ein wählerischer Esser und durch das Stillen habe ich ein gutes Gefühl ihn Essen zu lassen, was er mag und anders eben nicht. Genauso bin ich bei jeder Erkältung und jedem Magen-Darm-Infekt froh, dass er gern Milch trinkt, wenn er alles andere verweigert. Dadurch waren wir nie in der Situation aus Angst vor Dehydrierung, Mangelernährung oder zu geringer Kalorienaufnahme Druck beim Essen aufbauen zu müssen.

Natürlich gibt es Stimmen die sagen, er würde besser Essen, wenn er abgestillt wäre, er würde endlich zuverlässig durchschlafen, wenn sich das Aufwachen nicht mehr lohnen würde und ich müsse mein Kind „gehen lassen“.

Ich behaupte, dass er selbst weiß, was gut für ihn ist, dass Muttermilch auch im zweiten Lebensjahr und darüber hinaus ein wertvolles Nahrungsmittel ist und dass ich ihn selbst entscheiden lassen möchte, wie lange er stillt.

[1] http://www.bfr.bund.de/de/stillen_in_deutschland___eine_bestandsaufnahme-127243.html

[2] Lange, C, Schenk, L & R Bergmann: Verbreitung, Dauer und zeitlicher Trend des Stillens in Deutschland. Bundesgesundheitsbl – Gesundheitsforsch- Gesundheitsschutz 5/6 2007, S. 624-33.

[3] Dettwyler, KA (1995). A time to wean: The hominid blueprint for the natural age of weaning in modern human populations. In Stuart-Macadam, P & Dettwyler, KA (Eds.): Breastfeeding: Biocultural perspectives, Aldine de Gruyter New York, 1995

 


melanie

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