Wenn man sich mit Menschen unterhält, wie sie zu Attachment Parenting (AP) und artgerecht gekommen sind, antwortet gefühlt die Hälfte der Befragten, dass sie zuerst das Buch „Geborgene Babys“ von Julia Dibbern gelesen haben.
Auch wir gehören zu dieser Hälfte.
Für mich war das Lesen des Buches entsprechend dem Schreibstil von Julia sehr emotional. Es hat meinen Mutter-Ur-Instinkt geweckt, der mir sagte „Wenn du ein Kind hast, musst du es genau so machen“. Angesichts der überraschenden Alternativlosigkeit war ich froh, dass es offensichtlich Menschen gab, von denen ich den bindungsorientierten Umgang mit Babys lernen konnte. Ohne dieses Buch hätte ich es nie gewagt, mein Kind bedürfnisorientiert aufwachsen zu lassen, in der Annahme „das kann man doch nicht machen, zu Kindern muss man streng sein“.
Als unser Sohn auf der Welt war schlief er von der ersten Nacht an in unserem Bett, wurde nach Bedarf gestillt und umher getragen, sofern er nicht grade auf uns schlief. Es fühlte sich für uns 3 genau so perfekt und richtig an.
Leider bekamen wir viel Gegenwind. Die Kinderärztin geriet in Panik als wir ihr sagten, dass das Baby in unserem Bett schlafe. Ihre Aussage: Uns müsse klar sein, dass unser Verhalten eine ernsthafte Lebensgefahr für das Kind darstelle. Das ständige Stillen wurde erst belächelt und später mit hochgezogenen Augenbrauen und der Prophezeiung von Bauchschmerzen bedacht. Weiterhin wurde uns geraten, das Baby bald an sein Bett zu gewöhnen und es doch auch mal im Kinderwagen spazieren zu fahren, ob er im Tragetuch genug Luft bekäme blieb ungewiss.
Da steht man dann als frisch gebackene Eltern. Glücklich, motiviert und mit guten Vorsätzen aber auch müde, geschafft, unsicher und emotional zart besaitet – und fühlt sich ziemlich allein.
Das ist leider ein häufiges Phänomen… Attachment Parenting macht Eltern und Kinder zufrieden und gleichzeitig einsam. Liebevoller Umgang ist in unserer Gesellschaft ungewohnt und wird häufig abgelehnt. Heute denke ich mir, dass die Art, wie wir unseren Sohn begleiten bei vielen Menschen Sehnsucht und Traurigkeit auslöst und sie deshalb ablehnend reagieren. Vielleicht würden sie selbst gern so liebevoll behandelt oder hätten ihre Kinder von Herzen gern so aufwachsen lassen, wäre es nicht durch die gängigen Erziehungsratgeber und -ansichten „verboten“.
Was haben wir gemacht? Wir sind unseren Weg gegangen, haben versucht aufzuklären oder einfach gelächelt, wenn alles erklären nichts half. Wir haben uns weiter belesen, informiert und mit anderen AP-Eltern ausgetauscht. Ich las z.B. „Born to be wild“ von Herbert Renz-Polster und „artgerecht – Das andere Babybuch“ von Nicola Schmidt.
Das artgerecht Babybuch erschien für uns zu einem perfekten Zeitpunkt. In Sachen Babypflege, Stillen und Tragen überschneidet es sich inhaltlich mit vielen AP-Themen, an denen wir uns orientiert hatten. Aber trotzdem waren wir irgendwann ab 16 Uhr völlig erschöpft, manchmal auch schon um 11 Uhr. Wie konnte es sein, dass der bedürfnisorientierte Umgang mit einem Kind uns Eltern an den Rand des Zusammenbruchs trieb?
Mir wurde klar, weshalb viele Eltern ab dem 6. Lebensmonat beispielsweise mit einem Schlaftraining beginnen. Sie können einfach nicht mehr. Sie sind müde, erschöpft und verzweifelt. Wir waren es auch. Was machten wir falsch?
Die Antwort fanden wir im artgerecht Babybuch. Wir Erwachsene lebten nicht artgerecht. Für unser Kind war alles soweit paletti aber wir hatten nicht genug Zeit für uns selbst, zum Erholen, Schlafen, Duschen, Essen, von Zeit zur Selbstverwirklichung wollen wir nicht mal reden.
Es braucht ein Dorf um ein Kind aufzuziehen, sagt ein afrikanisches Sprichwort. Dieses „Dorf“ hatten wir uns nicht organisiert und waren die meiste Zeit für Kind, Arbeit, Haushalt usw. allein zuständig. Das war einfach zu viel. Wir brauchten mehr Unterstützung. Ich wollte unseren kleinen Sohn noch nicht allzu lange abgeben aber er drehte daraufhin seine ersten Runden mit Oma im Park, wir gönnten uns gelegentlich eine Putzhilfe und trauten uns auch mal mit ihm ins Restaurant statt abends noch zu Kochen.
Das Baby wurde langsam ein kleines Kind und immer wieder stolperte ich auf Blogs im AP-Umfeld über den Begriff „unerzogen“. Da waren Eltern, die ließen ihre Kinder Fernsehen und Süßigkeiten essen, so viel diese wollten und ins Bett musste auch keiner… Wie bei Pipi Langstrumpf… Mein erster Gedanke: Irgendwelche extrem Verrückten gibt es überall.
Unser Sohn wurde älter, begann zu krabbeln, entdeckte die Welt, räumte den Tisch ab und die Schränke aus und dann kam der Gedanke „Ich will nicht den ganzen Tag „Nein“ sagen“ – Nervt ja auch…
Was tun? Wir schufen eine so genannte Ja-Umgebung. Wir räumten alles weg, das uns wichtig genug war, sicherten die Wohnung.
Es ist unsere Verantwortung, dass unserem Sohn möglichst nichts passiert. Es gibt mehrere Wege, das zu erreichen. 1000 Mal„Nein“ am Tag ist einer davon, Umräumen ein anderer. Ein Glück, dass wir zu dieser Zeit umgezogen sind, das erleichterte das Ausmisten und kindgerechte Einrichten enorm.
Eines Tages unterhielt ich mich mit meinem Mann darüber, was eigentlich unsere Grundsätze für den Umgang mit unserem Kind sind oder sein sollten.
Wir kamen zu folgenden „Regeln“:
– Unser Sohn soll sich möglichst nicht verletzen (100% hat man das ja nicht im Griff)
– Er soll uns und andere Personen nicht verletzen
– Es soll nichts kaputt gehen, das uns oder jemand anderem wichtig ist
Noch was? Erstmal nicht… War gar nicht so schwer… Wir schauen mal, wie das funktioniert. Und ZACK – da hatten sie uns – Die Unerzogenen.
Ich gab der Haltung „Unerzogen“ noch eine Chance und mit Verzögerung kam auch hier der „Wohlfühlmoment“. Ich möchte meinem Sohn nicht sagen, wie er zu sein hat. Ich möchte ihn auf seinem Lebensweg begleiten, so wie er ist. Er ist ein vollwertiger Mensch, wir respektieren ihn so, wie mein Mann und ich uns gegenseitig respektieren und wahren seine Integrität. Es fühlt sich gut und richtig an, also geht unser Weg in diese Richtung weiter.
Ich kann und will nicht behaupten, dass wir immer alles richtig machen und jeden Tag gut gelaunt mit unseren komischen Ansichten durch den Tag schweben als hätten wir Gott-weiß-was gefrühstückt.
Es gab Tage an denen ich meinem Mann den kleinen Zwerg in die Hand gedrückt habe und gesagt habe, ich kann ihn nicht noch weitere 100 Stunden stillen, er soll ihn ins Tuch packen und rausgehen, ich muss schlafen, auch wenn er weint.
Ich motze ihn an, wenn er mir seinen Lego-Traktor an den Kopf wirft und habe ihn auch schon gewickelt, als er das nicht wollte, weil ich keinen Kacki-Duft mehr ertragen konnte.
Gerade gestern erwischte mich mein Mann als ich zu unserem Sohn im Wald sagte „Du kannst nicht ohne Schuhe herum laufen.“ Natürlich „kann“ der Kleine das und lief den Rest des Weges strümpfig und zufrieden durch den Wald.
Den Anspruch alles oder auch nur das meiste richtig zu machen habe ich hinter mir gelassen. Ich weiß, dass ich Fehler mache, an jedem einzelnen Tag, aber ich weiß auch, dass das total ok ist. Um es mit Nicolas Worten zu sagen „4+ ist ausreichend! Wir müssen nicht perfekt sein. Keiner ist das. Und das macht nichts.“
Wir alle müssen einen Weg für uns und unsere Familie finden. Wir können einen ausgetretenen Weg wählen oder auch einen, den zuvor möglicherweise noch niemand gegangen ist. Hauptsache es ist unser Weg. Das ist nicht leicht aber es lohnt sich.
melanie