Es gibt kaum ein Thema, dass unter Eltern für so viele Diskussionen sorgt wie die Betreuung außerhalb der Kernfamilie. Was ist eine angemessene Betreuung für das Kind? Und was macht die Betreuung abseits von Mutter und Vater mit dem Kind? Das sind Fragen, die wir alle uns stellen. Fragt man Menschen, die gegen Fremdbetreuung sind, kann es einem schnell Angst und Bange werden, vor allem dann, wenn man keine anderen Optionen hat und auf diese Art der Betreuung angewiesen ist.
Was genau die Argumente der Gegner der Fremdbetreuung, bzw. der Betreuung außerhalb der Kernfamilie sind, versuche ich hier zusammenzufassen. Ich kann einige Argumente nachvollziehen oder gar unterstützen. Einige andere spiegeln nicht meine Meinung wider bzw. sind aus meiner Sicht nicht richtig recherchiert oder beziehen sich auf Studien, die in einem anderen Kontext, vor längerer Zeit oder in anderen Ländern durchgeführt wurden.
Freie Entfaltung ist wichtig
Bei meiner Recherche bin ich auf einen Artikel gestoßen, den ich hier gerne verlinken möchte, weil ich ihn sehr reflektiert, toll geschrieben, einfühlsam und absolut nicht wertend finde. Fiona von unverbogenkindsein beschreibt fünf Gründe, die für sie gegen Fremdbetreuung sprechen.
Sie verfolgt die unerzogen Philosophie und sagt, dass diese schwer mit der Betreuung in einem Kindergarten oder bei einer Tagesmutter zu vereinbaren ist. In Betreuungseinrichtungen muss es Regeln geben, damit alle Kinder dort sicher sind und die Betreuer allen gerecht werden können. Doch gerade kleinen Kindern fällt es oft schwer Regeln zu befolgen. Sie verstehen noch nicht, warum sie etwas machen müssen, was gegen ihr aktuelles Bedürfnis (z.B. alle setzen eine Mütze auf) spricht. Das kann zu Stress und Frust führen, denn sie fühlen sich in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt. Manche Kinder werden durch diesen Stress und den für sie spürbaren Druck aggressiv.
Im Kindergarten lernen die Kleinen ganz viel, das ist oft eines der Argumente, warum Kinder überhaupt in den Kindergarten gehen. Fiona zeigt, dass dem nicht so ist. Kinder können überall etwas lernen, wenn wir sie lassen und ihnen die Möglichkeiten geben zu entdecken und sich zu entfalten. Genau diese sind in Betreuungseinrichtungen oft nicht gegeben, denn hier werden oft Lernübungen oder Experimente für alle vorgeschrieben. Auch der Stress durch Regeln und Vergleiche und Bewertungen können die Freude am Entdecken und Lernen einschränken.
Studienlage
Zur Fremdbetreuung wurden einige Studien durchgeführt. Ihre Ergebnisse sind teils sehr uneindeutig, sprechen aber auch oft eine klare Sprache.
Lieselotte Ahnerts Studie zum Cortisol-Pegel
Lieselotte Ahnert ist Entwicklungspsychologin an der Universität Wien und hat schrieb 2010 das Buch „Wie viel Mutter braucht ein Kind?“. Mit ihrer Forschung möchte sie nicht untersuchen, ob Kinder fremdbetreut werden sollen, sondern wie lange und in welchem Umfeld. Sie betont, dass ein Blick auf unsere Vorfahren und in die Jäger und Sammler Gesellschaften lohnenswert ist, um hierauf eine Antwort zu finden.
Lieselotte Ahnert führte unter anderem eine Studie zum Stresspegel der Kinder in Betreuungseinrichtungen durch und lies dafür den Cortisol-Spiegel über den Speichel der Kinder messen. Sie stellte fest, dass Kinder in Betreuungseinrichtungen leicht erhöhte Werte aufweisen, diese aber innerhalb der normalen Variationsbreite liegen (siehe Tagesspiegel, 07.05.2012).
Interessant wird es aber erst, wenn man ihre Forschung weiter verfolgt, denn diesen Teil verfolgen viele Gegner der Fremdbetreuung nicht mehr. Lieselotte Ahnert untersuchte, wie hoch der Stresspegel in der Freizeit der Kinder war und ob die Zeit im häuslichen Umfeld tatsächlich entspannter für die Kinder war. Hierzu untersuchte sie, wie Eltern ihren Alltag mit den Kindern gestalteten und verglich dies mit Familien, in denen Kinder zuhause betreut wurden. Es zeigte sich, dass in beiden Modellen gleich viel kindzentriertes Verhalten der Eltern erfolgt, dieses bei betreuten Kindern jedoch sehr viel kompakter erfolgt.
Und noch ein weiterer Punkt ist wichtig. Laut den Untersuchungen gelingt es sogar schon kleineren Kindern, anders als bisher angenommen, zwischen Zuhause und der Betreuungseinrichtung zu unterscheiden. Sie wissen schon früh, dass sie dort nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit bekommen können und lernen damit umzugehen.
Es lohnt sich also, die kompletten Forschungsergebnisse anzuschauen. Dies ist Lieselotte Ahnert auch sehr wichtig, wie beispielsweise hier nachzulesen ist.
John Bowlby – von Mutterentbehrung und seelischem Leid des Kindes
John Bowlby war Kinderarzt und Psychoanalytiker und forschte in den 60er Jahren zur Bindung zwischen Mutter und Kind. Seine Forschungsergebnisse lösten heftige Diskussionen aus und werden auch heute noch von Gegnern der Fremdbetreuung als Nachweis der Schädigung der Fremdbetreuung angeführt.
Bowlby und sein Assistent Robertson fanden heraus, dass Kinder auf eine Trennung von der Mutter mit Trauer oder gar depressiven Verstimmungen reagieren. Dies belegten sie mit Untersuchungen an Kindern, die durch frühe Krankenhausaufenthalte von ihren Müttern getrennt wurden.
Studie von Clarke-Stewart
Alison Clarke-Stewart, eine Psychologin, welche in den USA forscht, fand 1989 heraus, dass ein höherer Anteil fremd betreuter Kinder eine unsichere Bindung zur Mutter aufweisen, als daheim betreute Kinder. Nach ihren Forschungsergebnissen sind 36% der fremdbetreuten Säuglinge unsicher gebunden, wohin gegen nur 29% aller daheim betreuten Kinder unsicher gebunden sind.
Beachtet wird bei diesen Ergebnissen oft nicht, dass Alison Clarke-Stewart auch das Umfeld der Kinder mit betrachtete und herausfand, dass eine Fremdbetreuung für das Kind nicht schädlich ist, wenn es in einem guten häuslichen Umfeld aufwächst. Diese Erkenntnisse gewann sie auch durch die NICHD-Studie
Die NICHD-Studie
Die NICHD-Studie wurde 1991 in den USA durchgeführt. 1364 Kinder und derern Familien wurden von deren Geburt bis zur sechsten Klasse begleitet, eine weitere Untersuchung fand im Alter von 15 Jahren statt. 28% der Kinder wurden bereits im Säuglingsalter in einer Tagespflege oder Krippe betreut, knapp die Hälfte von ihren Vätern, Partnern der Mutter oder Großeltern. Mit drei Jahren waren über 90% der Kinder in einer Fremdbetreuung.
Gegner der Fremdbetreuung führen diese Studie gerne an, denn sie hat gezeigt, dass fremdbetreute Kinder schneller laut und aggressiv werden oder Verhaltensäuffälligkeiten an den Tag legen. Diese wurden sogar schwerwiegender je länger das Kind fremd betreut wurde, unabhängig von der Qualität der Fremdbetreuung und dem Umgang im häuslichen Umfeld.
Dies ist aber nicht das einzige Ergebnis der Studie. Sie zeigte auch, dass Kinder in Fremdbetreuung kaum einen kognitiven Fortschritt vor daheim betreuten Kindern haben. Ebenfalls wurde deutlich, dass die Art und Qualität der Betreuung einen großen Einfluss haben und auch die Ausgangslage im häuslichen Umfeld. Es wird kritisiert, dass die Untersuchung keine repräsentative Stichprobe als Basis genommen hat. Nähere Informationen und eine Zusammenfassung aller Ergebnisse ist hier zu finden.
Die Sehnsucht der Kinder
Hanne K. Götze ist Autorin des Buches „Die Sehnsucht kleiner Kinder“ und absolute Gegnerin der Fremdbetreuung. In einem Artikel im Fokus vom 25.06.19 legt sie ihre Ansichten dar, die ich hier in verkürzter Form wieder gebe.
Kinder in der Fremdelphase, also ab ca 8 Monaten, können nicht verstehen, ob und wann die Mutter zurückkommt, sie haben noch keine Objektpermanenz. Für sie bedeutet eine Abwesenheit der Mutter eine Abwesenheit für immer. Die Abwesenheit der Mutter löst beim Kind Trauer und Existenzangst aus. Räumliche Distanz wird mit innerer Distanz gleich gesetzt. Dies wurde durch das Stil-Face-Experiment belegt. Aus dieser Distanz kann eine unsichere Bindung entstehen.
Die Fremdbetreuung bringt viele Stressfaktoren mit. Die Erzieher sind für das Kind fremde Personen, um sie herum sind viele Kinder, die mitunter viel Lärm verursachen. Auf das Kind prasseln also jede Menge Eindrücke in einer lauten Umgebung ein. Das kann für kleine Kinder sehr unübersichtlich und beängstigend sein.
Oft sind in der Fremdbetreuung viel zu wenige Erzieher für viel zu viele Kinder zuständig. Oder sie wechseln immer wieder, so dass die Kinder gar keine Chance haben eine Beziehung aufzubauen.
Durch die Fremdbetreuung sind die Kinder gezwungen ihre Bedürfnisse hinter denen der Betreuungseinrichtung und des Arbeitgebers der Eltern hinten anzustellen. Auf ihre Bedürfnisse und Signale wird nicht eingegangen. Kinder werden zum funktionieren erzogen, sie spielen in Betreuungseinrichtungen nur sehr stereotyp (laut einer Studie aus den 70er Jahren).
Der Stress den die Kinder in der Fremdbetreuung erleben sorgt dafür, dass sie schneller und häufiger krank werden. Des weiteren zitiert die Autorin die Ergebnisse der NICHD-Studie und weist darauf hin, dass Kinder durch Fremdbetreuung aggressiv sind.
Ich halte diesen Artikel für gefährlich. Die Autorin schreibt selbst, dass sie ein Trauma aus ihrer eigenen Kindergartenzeit hat. Sie zieht nur Bruchteile von Studien für ihre Argumentation zu rate, reißt sie aus dem Zusammenhang und verwendet völlig veraltete Studienergebnisse. Dies ist leider kein Einzelfall.
Ergebnisse für Deutschland – Die Nubbek-Studie
Nubbek – Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit. Diese Studie hat es sich zur Aufgabe gemacht, auch für Deutschland belastbare Ergebnisse vorzulegen. Die Ergebnisse sind in einer Broschüre zusammengefasst und wirklich sehr interessant.
Aus meiner Sicht lohnt es sich für die Gegner der Fremdbetreuung in diese Studie einen Blick zu werfen und nicht alte Studien aus anderen Ländern für ihre Argumentation zu verwenden. Ebenso lohnt es sich den Blick zu weiten, zu ergründen wann die Betreuung wirklich fremd ist und auch zwischen den einzelnen Betreuungsformen und -einrichtungen zu differenzieren. Den genau hier liegt oft der Hund begraben, das fand auch die Nubbek-Studie heraus.