Astrid Lindgren, geboren am 14.11.1907, wäre gestern 110 Jahre alt geworden. Sie ist eine der bekanntesten Kinderbuchautorinnen und hat wundervolle Werke geschaffen. Dabei wollte sie niemals Autorin werden.
Doch mit ihren Werken und ihrem Leben hat sie viel bewegt. Astrid Lindgren setzte sich zeitlebens für Kinder- und Tierrechte ein und zeigte mit ihren Büchern, dass Kinder keine strenge Hand, Autorität und Gewalt brauchen, sondern Liebe und Geborgenheit. Sie ist im Herzen immer ein Kind geblieben und hat das sehr eindrücklich am 80. Geburtstag ihrer guten Freundin Elsa Olenius bewiesen. Mit dieser kletterte sie zu diesem Anlass um die Wette auf einen Baum und merkte hinterher an, dass es kein Verbot für alte Weiber gebe auf Bäume zu klettern.
Astrid Lindgren wuchs mit 3 Geschwistern auf einem Hof in Schweden auf. Über ihre Kindheit sagt sie:
Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit.
Sie hat durchweg positive Erinnerungen an ihre Kindheit und den liebevollen Umgang ihrer Eltern mit ihr und ihren Geschwistern. Dies spiegelt sich in ihren Büchern wieder, aber auch in ihrem Wirken.
1978 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und hielt im Rahmen der Verleihung des Preises in der Paulskirche in Frankfurt ihre berühmte Rede „Niemals Gewalt!“ Sie ist in Gänze zum Beispiel hier zu finden. Dort sagt sie unter anderem:
Die jetzt Kinder sind, werden ja einst die Geschäfte unserer Welt übernehmen, sofern dann noch etwas von ihr übrig ist. Sie sind es, die über Krieg und Frieden bestimmen werden und darüber, in was für einer Gesellschaft sie leben wollen. In einer, wo die Gewalt nur ständig weiterwächst, oder in einer, wo die Menschen in Frieden und Eintracht miteinander leben.
Und weiter:
Ein Kind, das von seinen Eltern liebevoll behandelt wird und das seine Eltern liebt, gewinnt dadurch ein liebevolles Verhältnis zu seiner Umwelt und bewahrt diese Grundeinstellung sein Leben lang. Und das ist auch dann gut, wenn das Kind später nicht zu denen gehört, die das Schicksal der Welt lenken. Sollte das Kind aber wider Erwarten eines Tages doch zu diesen Mächtigen gehören, dann ist es für uns alle ein Glück, wenn seinen Grundhaltung durch Liebe geprägt worden ist und nicht durch Gewalt. Auch künftige Staatsmänner und Politiker werden zu Charakteren geformt, noch bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben – das ist erschreckend, aber es ist wahr.
Ihr berühmtestes Buch „Pippi Langstrumpf“ erschien 1945, in einer Zeit in der gerade einer der schlimmsten Kriege der Menschheitsgeschichte zu Ende gegangen war und Kinder funktionieren und gehorchen mussten. Erziehung wurde mit Gewalt und Strafen durchgesetzt. Da erschien es geradezu rebellisch eine Geschichte über ein kleines freches Mädchen zu veröffentlichen, das ohne Eltern in einer völlig runtergekommenen Villa lebte und sich gegen jede Autorität widersetzte.
Jedes Kind dagegen wünschte sich so zu sein wie Pippi. Unabhängig und frei, selbstbestimmt und glücklich. Bei Pippi gab es Süßigkeiten in Massen, sie ging nicht zur Schule und bestimmte selbst wann die beste Zeit zum schlafen war. Sie kleidete sich so wie es ihr gefiel und nicht so wie es für Mädchen dieser Zeit schicklich gewesen wäre. Und sie schickte die Prusseliese, also die Dame vom Jugendamt, immer wieder weg, denn Pippi konnte hervoragend für sich selbst sorgen.
Viel wichtiger ist aber, was Astrid Lindgren mit diesem Buch zeigt. Ein Kind braucht keine Erziehung um ein Mensch zu werden, der selbstlos und mitfühlend ist. Pippi hat einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und sorgt immer gut für die Menschen in ihrer Umgebung. Lange bevor der Begriff unerzogen bei Eltern die Runde machte und bevor immer mehr Menschen diesen Weg gingen, zeigte Astrid Lindgren, dass genau das funktionieren kann und gut ist.
Allen Kritikern, die ihr die befürwortung der antiautoritären Erziehung unterstellten nahm sie mit folgenden Worten den Wind aus den Segeln:
Freie und unautoritäre Erziehung bedeutet nicht, dass man Kinder sich selbst überlässt, dass sie tun und lassen dürfen, was sie wollen. Es bedeutet nicht, dass sie ohne Normen aufwachsen sollen, was sie selber übrigens gar nicht wünschen. Ganz gewiss sollen Kinder Achtung vor ihren Eltern haben, aber ganz gewiss sollen Eltern auch Achtung vor ihren Kindern haben, und niemals dürfen sie ihre natürliche Überlegenheit missbrauchen. Liebevolle Achtung voreinander, das möchte man allen Eltern und Kindern wünschen.
Eine für mich weitere wichtige und zentrale Figur ist Michel, der immer wieder Unfug macht und zur Strafe in den Schuppen gesperrt wird. Und dort lässt er dann seiner Kreativität freien Lauf und schnitzt Holzmännchen. Michel selbst ist ein herzensguter Junge, der selbst gar nicht weiß wie es immer wieder passieren kann, dass das was er tut zu Unfug wird. Im Buch „Als Klein-Ida auch mal Unfug machen wollte“ versucht er seiner Schwester das Dilemma wie folgt zu erklären:
„Unfug denkt man sich nicht aus“, sagte Michel. „Unfug wird’s von ganz allein. Aber dass es Unfug war, weiß man erst hinterher.“
Klein-Ida möchte so sein wie Michel, sie möchte auch gerne mal Unfug machen. Doch bei ihr wird es irgendwie nie Unfug. Woran liegt das? Und warum wird immer Michel verdächtigt?
Dieses Buch zeigt sehr eindrücklich, wie die Sichtweise der Eltern auf Kinder deren Leben beeinflussen und sie gar formen kann, denn Michel fragt sich oft, ob er wirklich so schlecht ist. Würde man seine Eltern fragen wäre die Antwort eindeutig: Michel ist der böse Junge, der nur Unfug im Kopf hat. Seine kleine Schwester Ida dagegen ist ein süßes kleines Ding, dass niemals Unfug machen würde. Wie unrecht sie Michel doch tun.
Und dann sind da noch die vielen weiteren Figuren, die Astrid Lindgren mit ihren Büchern zum Leben erweckt. Da ist Lotta aus der Krachmacherstraße, die ihre Autonomie in einem liebevollen und geborgenen Umfeld ausleben darf und uns Eltern beim vorlesen ihrer Geschichten die Augen öffnet. Da ist Ronja Räubertochter, die in der wunderschönen wilden Natur Schwedens die Tage verbringt und sich über Grenzen und Hass hinwegsetzt. Da sind die Kinder aus Bullerbü, die füreinander einstehen und zeigen, dass Familie viel mehr ist als die Blutsverwandschaft.
Astrid Lindgren war eine großartige Frau, die Kinder so gesehen hat, wie wir alle sie sehen sollten. Als gleichwürdige Wesen, die vor allem zwei Dinge brauche : Liebe und Geborgenheit.